„Ein Horizont des Wunders“

Wachsen im Glauben mit Geistlicher Begleitung – ein Gespräch mit Pater Hermann Breulmann SJ
Fotos (c) und Interview Evelyn Christel

Zunehmend fragen Menschen nach einer persönlichen Geistlichen Begleitung, um mehr über den Glauben zu erfahren oder ihre Spiritualität zu vertiefen. Auch die zweijährige Ausbildung für Begleiter ist sehr gefragt. An erster Stelle der Geistlichen Begleitung steht das „wohlwollende Zuhören“, sagt Jesuitenpater Hermann Breulmann.

Herr Pater Breulmann, ist Geistliche Begleitung ein neueres Angebot in der Kirche?

Es ist bei uns im Orden eine alte Tradition, Exerzitien zu geben und Menschen in geistlicher Hinsicht zu begleiten. Zur Mitte des letzten Jahrhunderts wurden Exerzitien neu entdeckt. Aber auch die Laienspiritualität, nämlich dass nicht nur Schwestern und Mönche sondern, dass viele Menschen das Bedürfnis haben, ihr Leben geistlich zu führen und geistlich begleiten zu lassen.

Was muss ein Begleiter können und wie viel Psychologe muss er sein?

Er muss, glaube ich, für sich selbst einen Zugang zu den so genannten Affekten haben. Nicht nur zum Kopf und zum Gefühl sondern, wie Ignatius sagt, zu den Affekten, nämlich Freude, Zorn, Trauer… Dazu muss er erst einmal für sich ein Verhältnis finden, um andere begleiten zu können. Er sollte die Grundkonstanten des menschlichen Auf und Ab kennen. Aber er darf die Gottesfrage nicht aus den Augen verlieren. Das ist der Grund, warum Menschen kommen: um das Geheimnis ihres Lebens, das, was sie übersteigt, in ihren Lebenswegen zu entdecken, zu spüren, und auch vielleicht zu finden.

Wer kommt zu Ihnen?

Zunächst ist es eine Typfrage. Wer zieht wen an, zu wem hat man spontan Vertrauen. Ich habe beispielsweise sehr viel geistliche Begleitung mit Menschen gemacht, die entweder am Rande der Kirche oder gar nicht kirchlich gebunden sind. Die so etwas wie eine Sehnsucht spüren nach etwas, das größer ist als sie. Sie fragen ,Könnte ich einmal zu Ihnen kommen‘, und dann sprechen wir ab, ob und wie wir die Treffen verstetigen wollen.

Was sind die Bedürfnisse der Anfragenden?

Nach der christlichen und insbesondere der ignatianischen Spiritualität, inkarniert sich Gott in den Lebensgeschichten der Menschen. Der Stoff ist das, was sich im alltäglichen Leben ergibt oder ergeben hat. Und das zweite ist der Wunsch, dem Leben eine Struktur und eine gute Ordnung zu geben. Das ist ein wichtiges Stichwort für Geistliche Begleitung heute – wo wir so durch Spontaneitäten und Präsenzen geprägt sind – zu üben: Wie kann ich meinem Leben eine Form und meinem Glauben ein Format geben. Im Sinne einer guten Tagesrhythmik oder Wochenrhythmik.

Viele Menschen haben Vorurteile in Sachen Glauben und Hemmungen beim Sprechen von Gott. Sie empfinden die Schwelle, zumindest in Berlin, als hoch. Man braucht Mut, sich in eine Kirche zu wagen und das Evangelium zu hören. Was für viele ja eine ganz große Fremdsprache ist. Ist Geistliche Begleitung ein Verknüpfungspunkt zwischen ihrer Sehnsucht und der Kirche?

Schwellen gibt es überall. Jemanden anzusprechen und zu bitten: ,Seien Sie ein guter Begleiter für mich!‘, ist auch eine Schwelle. Ohne Mut geht es nicht. Aber dann bedeutet GB eine kirchliche Erfahrung. Nämlich, dass es innerhalb dieser Kirche einen wirklich individuellen Blick für Menschen gibt.

Werden Glaubenswege immer individueller?

Das ist ganz sicher so. Einerseits gibt es eine Sehnsucht nach Gemeinschaftserfahrung. Aber auf der anderen Seite gibt es ein großes Bedürfnis zu erfahren, dass das Geheimnis nach dem wir suchen, dass das Gottesgeheimnis eine ganz konkrete Adresse in einem Menschen hat. Auch die Bibel steckt voller individueller Ansprachen durch Jesus. Er spricht konkrete einzelne Menschen an. Das hat mich immer fasziniert. Sie habe einen Namen, sie haben ganz konkretes Leiden, einen konkreten Lebensweg. Im Markusevangelium steht, er erschien ihnen nach Ostern auf unterschiedliche Weise. Da haben sie es! Auch Ostern, auch das Kreuz, hat neben der allgemeinen Signatur der Welt und des Kosmischen eine ganz persönliche Note. Was ist mein Kreuzweg? Was ist meine Ostererfahrung und meine Hoffnungsfarbe? Was ist mein Anfang ist und mein Ende? Das sind Dinge, die immer mit der ersten Person Singular zu tun haben.

Wie sprechen Sie mit Menschen, die keine religiöse Sprache haben, von Gott?

Zunächst mal stottern wir ja alle. So leicht lässt sich heute über diese Fragen nicht sprechen: ,Was ist der Sinn des Lebens? Was ist das, was mir auf die Schultern gelegt wird? Was heißt eigentlich kreatürliches Glück und Zufriedenheit in meinem Leben? Woraufhin bin ich unterwegs? Was ist meine Bestimmung? Gehe ich den Weg allein oder mit anderen?‘ Der geistliche Begleiter teilt mit den Menschen, die zu ihm kommen, eine gewisse Vorsicht, eine Verhaltenheit und ein Suchen nach dem Wort, was dann vielleicht das Grundstichwort der Situation ist, in der sich ein Mensch befindet.

Ist man in so einem Moment offener für ein Bibelwort?

Wenn jemand beispielsweise meint, nicht genügend zu glauben, nicht genügend zu lieben, nicht genügend zu hoffen, dann fällt mir das Wort vom kleinen Senfkorn ein, was ganz kurz, aber von einer großen Dichte ist. Das Senfkorn wird zu einem großen Baum. Und diese Lücke dazwischen ist nicht Anstrengung, sondern vielleicht ein Horizont des Wunders, nämlich zu wachsen. Ich ahne, dass ich mit dem kleinen Korn in der Hand tatsächlich auch schwierige Situationen bestehen kann und  Zutrauen zu mir selbst und zu Gott haben kann.

Ist das eine Schwelle zwischen dem ,Gott entdecken‘ und dem Wachsen im Glauben? Dieses Gefühl, ,Ich bin nicht genug für Gott‘?

Selbstzweifel sind Blockaden. Das ,Sich in sich selbst Verkleinern‘, das Sagen ,Ich bin nicht genug‘, das ist etwas, das Jesus immer aufgegriffen hat. Behinderungen, Krankheiten oder Misstrauen, das hat Jesus ernst genommen. Aber er hat sie immer in einen Horizont der Weite gestellt, diese Menschen. Er hat sie dort angesprochen, wo sie verletzt waren, wo sie Wunden hatten. Dieses Wort ,In seinen Wunden sind wir geheilt‘ kommt mir wie eine wunderbare Lebens- und Glaubensmaxime vor. Nämlich: Komme ich auch mit meinen Wunden an die Osterkerze oder muss ich erst fertig sein, um mich dort präsentieren zu können?

Selbstzweifel sind eine Blockade. Wie ist es um das Thema ,Schuld‘ bestellt?

Das ist ein großes, auch verkanntes Thema. Ich habe mal im Hospiz gearbeitet, Menschen begleitet. Dort habe ich von diesen Menschen gelernt – auch ganz säkularen Menschen, die auf dem letzten Weg waren – dass dann das Thema Schuld drückend, brennend Ist. Und dass es befreiend ist, wenn sie es aussprechen können. Alles, was krumm und nicht gerade war, alles, was angeblich misslungen war, was auch schuldhaft Schatten geworfen hat, im Leben für andere. Die Kosten, die man verursacht hat, bei anderen und bei sich selbst. Wenn das nocheinmal ausgesprochen werden konnte. Wenn ich zugehört habe und ihnen dann diese Lossprechung, im besten Sinne des Wortes, sagen konnte. Und dann heißt der letzte Satz ,Gehe hin in Frieden‘. Das ist ein Satz von einer ungeheuren Wirkung und Wirksamkeit.

Anscheinend ist der erste Schritt, dieses Senfkorn zu entdecken?

Ja, zu entdecken und auch zu sehen, wie jemand wachsen darf und wächst, durch die Widrigkeiten des Lebens, aber auch durch eine geistliche oder fromme Einfachheit des Lebens. Ob es ein Sonnenaufgang ist, ob es ein blühender Baum ist, ob es das Wetter oder die atmosphärischen Bedingungen sind. Alles das hat, glaube ich, eine große Bedeutung für Wachstumsprozesse. Selbst Trockenheit. Wo sind Quellen? Finde ich in Wüstenerfahrungen auch diese Oasen?

Wichtig finde ich auf alle Fälle, dass man übt, Dinge auf sich beruhen zu lassen. Auch das ist eine große Dimension des Glaubens. ,Es ist schon recht.‘ Es ist das große ,Ja‘, in guten und in schlechten Tagen, in Freude und Leid. Dass dieses ,Ja‘ sich nicht verliert, gegenüber dem empirischen ,Nein‘, was wir plausibel kennen. Dass bei all diesen Widrigkeiten das große ,Ja‘ der Schöpfung nicht verloren geht. Wachstumsprozesse gibt es auch nur, wenn ich mich ausrichte auf etwas, worauf hin sich zu leben lohnt.

Ist dies der Moment, wo ein Blühen einsetzt?

Ein Blühen, ein Aufatmen, auch eine tiefe Gelassenheit, dass sich Dinge schon richten oder mir auch dann Zeichen gegeben werden, Zeichen, Hinweise, Symbole. Diese kleinen Widerfahrnisse, die uns dazu ermutigen, ein Leben des Vertrauens und nicht des prinzipiellen Misstrauens zu leben – in sich selbst, in die anderen und in die Schöpfung.

Boomt die Geistliche Begleitung?

Ich weiß von unseren Mitbrüdern, dass sie einen vollen Kalender haben und sagen, ich kann nicht mehr Begleitung annehmen. Weil es eine zeitintensive Form der Seelsorge ist, weil man das menschlich und seelsorgerlich nicht wie am Fließband machen kann. Wir versuchen, Termine freizugeben und zu finden, um diese für uns wichtige Arbeit auch zu tun. Viele Männer und Frauen machen jetzt eine zweijährige Ausbildung. Man muss nur wissen, dass Seelsorge auch immer etwas ist, was mit Zeit haben zu tun hat, mit nicht alles verrechnen. Und letztlich auch mit einer guten Entbürokratisierung des Glaubens. Denn mit Bürokratie und Verwaltung kommen sie da nicht weiter.

Was bedeutet es Ihnen, Menschen zu begleiten?

Zunächst einmal bin ich immer erstaunt, dass Menschen Vertrauen zu mir haben. Für einen geistlichen Begleiter ist das Staunen wichtig. Und: dass es nicht selbstverständlich ist. Sonst rutscht es in eine Professionalität, die dem Ganzen nicht gerecht wird. Und das zweite ist, dass sie oft das Senfkorn schon in der Hand haben. Dass sie nicht mit nichts kommen sondern, dass da immer auch etwas ist, woran man anknüpfen kann und auch sollte. Menschen bringen immer ein Geschenk mit. Sie sind ein Geschenk.

Pater Dr. Hermann Breulmann leitet das Berlin-Büro des Cusanus Werks und ist Teil des Teams im Forum der Jesuiten in der Kantstraße.